Das Set-up: Man ist verreist. Man ist in die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante gefallen. Nun ist man also im Krankenhaus.
Die nächsten Tage verbringt die Frau in einer Art Halbbewusstseinswattebausch, gestrickt aus einem Paracetamol-Kodein-Mix, den man ihr üppig verabreicht, und taucht nur gelegentlich daraus auf, um den Surfkurs in der Sonne zu stornieren, oder um die Ärzte an ihrem Bett vorbeifegen zu sehen, die dabei jeweils ein paar Witze über die Art des Unfalls machen. Es stellt sich heraus, dass neben dem Knie auch die Schulter gebrochen ist, man aber erst mal abwarten wird, i.e. rumliegen. Schwammige Gedanken: vielleicht wird’s ja noch was mit der Schwesterhochzeit!
Als der Dämmerzustand nachlässt, gewinnt eine Mitpatientin das Interesse und alsbald auch das Herz der Frau. Christina ist ungefähr siebzig, trägt lange, glatte, in der Mitte gescheitelte, schwarz gefärbte Haare, pinken Lippenstift und einen oft unter einer dramatischen Sonnenbrille verborgenen ebenso dramatischen Lidstrich, hing in jungen Jahren wohl viel mit Elvis ab, und erweist sich als ausgesprochen unterhaltsam. Sie kommt mit jedem ins Gespräch und pflegt einen außergewöhnlich organisierten Konversationsstil. Als Regeln lassen sich identifizieren:
- Feste Frage zum Gesprächseinstieg: Are you married? (Während die Patientin im Bett gegenüber das routiniert bejaht, fühlt der Krankenpfleger sich in die Beziehungsvermeiderecke gestellt und verteidigt hektisch sein Junggesellendasein.)
- Zweite Frage: Irritation durch abrupten Themensprung, e.g.: Did you ever have a horse? – Bringt das Gegenüber zum Schweigen und leitet Phase 3 ein:
- Extensive eigene Beantwortung der eben gestellten Scheinfrage: Christina hatte gleich zwei Pferde. Und ein großes Grundstück und eine Villa. Viele Parties. Reiche Ehemänner.
Der Quasi-Ehemann der Frau hingegen ist wieder im Arbeitsstrudel verschwunden. Man kann viel lernen über Erwartungen, ihre Nichterfüllung, über Stolz und über Abhängigkeiten in Beziehungen, wenn ein Partner lahmgelegt ist und der andere viel zu tun hat. Kann man Stulle und einen richtigen Kaffee ans Krankenhausbett bestellen, wenn es sonst nur fürchterliches Essen gibt? Besuch einfordern? Muss man Verständnis fürs Ausbleiben haben? Bis wohin? Es gibt ein bisschen unterdrückte Wut und ein bisschen geäußerte Enttäuschung, und etwas Streit und Schuldgefühle und Einsamkeit und Unzulänglichkeit. Die Kollegin des Liebsten kommt mit Kuchen vorbei. Was sagt man da? ‚Immerhin’?
Christina muss derweil Gehübungen machen und jammert bei jedem Schritt, während ihre Tochter sie am Rollator vorwärts treibt. Den gut gemeinten Hinweis der Krankenschwester, möglicherweise gehe es besser und schmerzärmer, wenn sie (zu einem übrigens apricotfarbenen Flügelhemdchen) flaches Schuhwerk trage statt ihrer weißen, glitzernden, hochhackigen Diskostiefel, weist sie herablassend zurück: It took me a long time to find these boots, darling. I’m not taking them off now.
Die eigenen Gehübungen der Frau ergeben: Wenn man sich schon Arm und Bein bricht, dann ist es fürs Krückenlaufen besser, es auf derselben Seite zu tun. Nun ja. Es zeigt sich außerdem, dass die Krückennormen sich in verschiedenen Ländern unterscheiden. Australische und vermutlich im anglophonen Raum überhaupt verbreitete Krücken [profan: Achselstützen oder Amerikaner-Krücken] sehen nach Charles Dickens’ London aus, nach gelähmten Waisenjungen mit Schiebermützen und zerlumpten Hosen. Deutsche Unterarmgehstützen sind nicht halb so romantisch.
Eines schönen Tages entsteht folgender exzentrische, irgendwie poetische, potenziell medikationsinduzierte Dialog zwischen Christina und der Krankenschwester:
Christina: What day is it today, darling?
Krankenschwester: Uh…it’s Friday.
Christina: Friday… (Gedankenverlorenes Nicken, dann konkretisierende Nachfrage) All day?
Die Frau ist durchaus gerührt.
Es wird im Übrigen beschlossen, dass sie erst mal nicht operiert wird, sondern man in einer Woche neu darüber befinden werde. Die Frau beschließt weiterhin, dass sie dann, da sie ja wohl ohnehin vorerst keinen Surfkurs machen wird, lieber nach Hause zur Schwesterhochzeit fliegen wird. Sie packt ihre Sachen. Christina schiebt mit ihrem Rollator an ihrem Bett vorbei, bremst ab, senkt ihre Sonnenbrille, blickt ihr darüber hinweg tief in die Augen, schenkt ihr ein hinreißendes pinkfarbenes Lächeln und sagt: So, it’s Auf Wiedersehn now, is it? – Und das ist es ja wohl.
[Episode 3 einer Geschichte in mehreren Tabs]
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