Ein weiterer Plot Point steht unmittelbar bevor, als das Paar nach dem am Ende dann doch irgendwie versöhnlichen Karl-Dall-und-Katertod-Wochenende auf dem Bahnsteig des idyllischen Örtchens in Australien sitzt. Zunächst aber wird ein surreales Spannungselement eingeführt, in Form einer Gruppe Japanerinnen, alle etwa zwischen 40 und 50 und tipptopp mit modisch einwandfreien Wanderoutfits ausstaffiert. In kleinen Grüppchen à zwei bis drei Frauen verschwinden sie in der Damentoilette auf dem Bahnsteig, unter dem beobachtenden Blick des Paares, aber KEINE VON IHNEN KOMMT JE WIEDER RAUS! Was da passiert sein mag? Ein Rätsel, das ungelöst bleiben muss, denn der Zug fährt ein.
Ja, und da macht die Frau Anstalten, hinter ihrem Liebsten in den Waggon zu steigen, und fällt statt dessen in die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante.
Wir ahnen vielleicht schon, was für eine Erkenntnis sich aus dieser Geschichte gewinnen lässt. [Nicht ganz unironischerweise lässt die australische Metro diese rund ein Jahr später ausgesprochen charmant zusammenfassen:]
Schön wäre, wenn man behaupten könnte, es habe sich hier um eine ordentliche Actionszene gehandelt, und natürlich kann man das behaupten, in einer Geschichte. Aber die Frau hat später Schwierigkeiten, den Freunden, die sich bei ihrer Erzählung erschrocken die Hand vor den Mund schlagen, klarzumachen, wie unfassbar wenig Bewegung in dieser Szene enthalten ist. Ein völlig still stehender Zug, der keine Anstalten macht, anzufahren. Kein Lüftchen. Und eine Person, die zwischen Zug und Bahnsteig verschwindet wie ein Bleistift in einem Gulli. Oder ein Imbusschlüssel im Gulli, denn aus Klamaukgründen bleibt sie mit dem Arm am Bahnsteig hängen und schaut durchaus verdutzt, den Kopf auf Einstiegshöhe des Zuges, den Füßen ihres Freundes nach, der sich auf den Rumms hin umdreht, sie nicht sieht, den Blick nach unten wandern lässt, sie dort entdeckt und ihr aus dem Loch hilft.
Die Frau geht zum Sitz neben ihrem Liebsten und lässt sich drauffallen. Für die nächsten zehn Minuten ist sie ungewöhnlich schweigsam, während sie darauf wartet, wieder atmen zu können, und sich der Schmerz in ihrem Knie und ihrer Schulter durchdringend Gehör verschafft. Ebenfalls aus Klamaukgründen entspinnt sich anschließend ein Dialog nach Art des folgenden:
Sie: Uff, ich glaube, das war ein ziemlicher Rumms. Das Knie… Muss ich vielleicht hochlegen und kühlen… (Kann ich jetzt schon wieder die Familienärztin anrufen?) Hm. Wie blöd, und das an deinem letzten freien Abend. Was machen wir denn dann nachher?
Er: Ach, ich weiß nicht. Ich dachte, vielleicht einen Spaziergang…
Sie: Jaaaa, Spaziergang – ich weiß nicht… Ich kann mir vorstellen, dass ich dieses Bein mal in Ruhe lassen sollte…
Er (sinnierend): Hm, oder vielleicht hochwandern zur Steilküste…
Sie (völlig aggressionslos): Also Steilküste, tja, ich bin mir nicht ganz… Sag mal, wird das Knie gerade dick?
Während der restlichen Zugfahrt beobachtet die Frau, wie ihr Knie anschwillt und die schmal geschnittene Jeans an ihre Grenzen bringt, und nimmt leise Abschied von ihrem für den nächsten Tag gebuchten Flug in die Sonne.
Auf dem Bahnhof der australischen Großstadt angekommen, stellt die Frau schon beim Aufstehen fest, dass sie nicht nur ’nicht so gut laufen‘ kann, sondern kein einziger Schritt möglich ist. Das Knie ist inzwischen ein Fußball. Ihr Liebster drapiert die drei Taschen um sich herum und bietet ihr seinen Arm. Leider ist außer dem linken Knie auch die rechte Schulter beeinträchtigt, so dass das Aufstützen sich ebenfalls problematisch gestaltet und die Frau wie ein betrunkenes Känguruh schwankend neben ihm herhoppelt. Man ist auf dem Weg zu Gleis 26. Es geht los mit Gleis 1. Sehr langsam. Dann Gleis 2. Gleis 3. Gleis 4.
Je länger es dauert, desto mehr glaubt die Frau in die Hose pinkeln zu müssen vor hysterischem Lachen.
Gleis 5, Gleis 6, kürzen wir die Sache ab: es dauert ewig.
Auf Gleis 26 findet sich glücklicherweise ein hilfsbereiter Australier, der der Frau sogleich mit allerlei guten Tipps zur Seite steht. Sie soll eine Packung gefrorene Erbsen aufs Knie legen. Oder noch besser: gefrorene Bohnen! Er amüsiert sich prächtig und gibt extensiv seine eigenen Verletzungs- und Arztanekdoten zum Besten, und die seiner Verwandten und Freunde, während die Frau sich einbeinig im Nahverkehrszug an einer Stange festklammert. Im Eifer seiner Berichterstattung tritt er ihr außerdem auf den Fuß. Eine pragmatischere Australierin drückt eine Schmerztablette aus einer Packung in ihrer Handtasche und reicht sie ihr wortlos nickend; sie schluckt sie ebenso wortlos.
Wenn ein Gelenk in sehr kurzer Zeit sehr dick wird, ist meistens was kaputt. Denkt die Frau und beschließt, als die umstehenden Fahrgäste mit Blick auf ihr Bein sie ungefragt über die Existenz eines nahegelegenen Krankenhauses in Kenntnis setzen, dort vorstellig zu werden, statt sich mit gefrorenem Gemüse zu bedecken.
Nach drei Stunden Wartezeit wird sie geröntgt, nach weiteren zwei Stunden ins Arztzimmer gebeten. Mit ausgestreckten Beinen auf der Untersuchungsliege versucht sie redlich, der Bitte der Ärztin nachzukommen, das linke Bein zu heben. Als es sich auch mit aller verfügbaren Kraftanstrengung keinen Zentimeter bewegen lässt, nickt die Ärztin mit Das-hab-ich-mir-gedacht-Gesichtsausdruck und sagt: Das hab ich mir gedacht. Sie haben sich die Kniescheibe gebrochen.
Die Frau denkt: Ach was! Und etwas Ähnliches denkt bestimmt auch ihr Freund, als sie, aus dem Krankenhausbett winkend, an ihm vorbeigeschoben wird, und ihm zuruft, dass sie bis auf Weiteres hierbleiben wird. Jedenfalls guckt er schockiert und winkt zurück.
[Teil 2 einer Geschichte in mehreren Tabs]
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