Nach einem drastisch verkürzten Besuch bei ihrem bekriselten Liebsten am anderen Ende der Welt und einem nicht ganz so pärchenurlaubmäßigen Krankenhausaufenthalt ebendort steht die Frau nun mit ihrem Fit-to-Fly-Attest, Krücken und Streckschiene am Flughafen in der Check-in-Schlange. Man lässt sie mit ihren Koffern vor, was sie als gutes Omen für die Aufmerksamkeit der Flugbegleiter deutet. Nachdem sie sich in der nicht übertrieben gepflegten Flughafentoilette ihre Thrombosespritze in den Bauch gesetzt hat, wobei durchaus Junkieatmosphäre aufkommt, schreitet das Paar zum Abschied. Dabei herrscht mutmaßlich bei beiden eine Mischung aus Traurigkeit und Erleichterung über das vorläufige Ende der Gemeinsamkeitsqualen vor.
Am Sicherheitscheck stellt sich heraus, dass Streckschiene und Krücken, im Widerspruch zur aktuellen Selbstwahrnehmung der Frau als so etwas wie ein frisch verwaistes harmlosestes Bambikaninchen der Welt, eher Misstrauen erregen. Sie steht ein Weilchen einbeinig neben dem Metalldetektor, an das Fließband gekrallt, während eine Sicherheitsbeamte vor ihr kniend das kaputte Bein abtastet wie einen sehr spannenden Krimi in Braille, derweil die Krücken von jedem einzelnen der übrigen Sicherheitsbeamten gründlich überprüft werden, und notiert für die Zukunft: Wenn Attentat, dann nicht in Versehrten-Verkleidung.
Beim Boarden stellt sie fest, dass sie einen Mittelplatz bekommen hat, was dem streckgeschienten Knie ein neues Feature als eine Art körpereigener Hockeyschläger hinzufügt: Der am gebrochenen Bein hängende Fuß verkantet derart hebelartig unter dem Economy-Vordersitz, dass es völlig unmöglich ist, den Hintern (der ja auch am Bein befestigt ist) auf den Sitz zu senken. In einer Mischung aus Verzweiflung und hysterischem Amüsement malt die Frau sich die nächsten fünfzehn Stunden in dieser Position aus. Dann lässt sich auf dem Nebensitz, und jetzt wird’s richtig albern, ein professioneller Rugbyspieler der neuseeländischen National League nieder; ein muskelbepackter Koloss, dessen Schulterbreite die Sitzbreite der billigen Plätze beträchtlich überschreitet. Die Frau muss gleichzeitig haltlos kichern und ein bisschen heulen. Der Koloss erweist sich als ausgesprochen freundlich und weichherzig, hat mit einem Blick die Unmöglichkeit der Lage erfasst und sucht umgehend einen Steward auf, mit dem dringenden Aufruf, doch bitte etwas zu tun. Das müsse ein Upgrade geben, versichert er der Frau, als er zurückkommt. Muss es nicht, wie sich herausstellt, aber man räumt ihr eine Dreierreihe Crewsitze ganz hinten frei, wo sie sich auf den Fensterplatz setzt und das kaputte Bein in einem in Anbetracht der Umstände doch ziemlich eleganten Halbspagat auf den beiden Sitzen links von ihr ablegen kann, und das erste Mal seit dem Abschied durchatmet, bevor sie sich gedanklich der nächsten Herausforderung widmet:
Schlaflose Nächte nämlich hat die Frau schon im Vorfeld mit dem Gedanken an die raumoptimierte Flugzeugtoilette verbracht: Ein 15-Stunden-Flug. Es wird sich nicht umgehen lassen. Mit einer Streckschiene: Wie um alles in der Welt soll das platzmäßig funktionieren? Wird es eine Frage von Zentimetern sein? Wird sie die Tür auflassen müssen? Wird eine Flugbegleiterin Schmiere stehen? – Es zeigt sich, dass es möglich ist, die Tür zu schließen und sich sogar hinzusetzen, wenn man das unbeugbare Bein vor dem Schließen der Tür auf der Kosmetikablage über dem Waschbecken parkt. An dieser Stelle lässt sich endgültig nicht mehr von Eleganz sprechen, vielleicht noch von Form follows function.
Zurück auf ihrem Sitz schmeißt die Frau eine Paracetamol-Kodein-Tablette aus ihrem Krankenhaus-Carepaket ein, in der Hoffnung auf baldigen Schlaf. Wie auf jedem Langstreckenflug gucken in ihrem Sichtfeld mindestens acht Passagiere Findet Nemo, was nach subjektiv erhobener Statistik der beliebteste Film bei Flugreisenden jeder Altersgruppe sein muss. Dann ist das Sichtfeld aber bald verschwunden, als ihr Vordermann seinen Sitz zurückkippt und in behagliches Schnurcheln verfällt. Da ihr eigener Sitz als letzter in der Reihe über diese Funktion leider nicht verfügt, schaltet die Frau auf dem Monitor, der nunmehr ihre Nasenspitze touchiert, die elendste Schnulze ein, die sie im Programm finden kann und gibt sich dem eskapistischen Exzess hin.
Es geht dann noch ziemlich viele Stunden so weiter. Beim Zwischenstopp in Dubai wird der Frau von einem mitfühlenden älteren australischen Ehepaar ein Rollstuhl aufgenötigt, mit dem sie sie kurz umherschieben, bevor sie dann aber zu ihrem Anschlussflug weitermüssen, während die Frau noch einen neunstündigen Aufenthalt vor sich hat. Für diesen wird sie dann von einer Flughafenangestellten in eine unfassbar trostlose Halle gekarrt, in der sich nichts befindet als Bänke und ein Süßigkeitenautomat, und dort stehengelassen, was am Flughafen in Dubai augenscheinlich das übliche Prozedere in Fällen wie ihrem ist. Was sie als ziemlich demütigend empfindet. Und da erlebt sie einen gefühlten Höhepunkt der Selbstbestimmtheit, als sie nämlich ihre Krücken schnappt, ein weiteres Mal beschließt, dass man sie mal könne, und dass sie nun in den Duty-Free-Bereich eintauchen wird und die georderten Zigaretten für die Freundin ihres Bruders besorgen, und für sich selbst Kaffee und Kuchen und potenziell irgendwas Albernes, Glitzerndes. Und dass sie im Sinne der Würde und der Selbstachtung im Übrigen alle Knochenbrüche und sonstigen Umstände für die nächsten Stunden mal bestmöglich ignorieren wird.
Und nach weiteren sieben Stunden Flug landet sie in der Heimat, wo eine Reihe großartiger Freunde und ein Hund sie zu Tränen rührend liebevoll in Empfang nehmen, und wo sie sich um verschiedene Weisheiten bereichert sieht. Nämlich: a) Nur weil man meinen könnte, ein Upgrade sei in einer Situation das Sinnvollste, kriegt man nicht zwingend eins. b) Der Soft Skill ‚Niederlassen auf dem Toilettensitz einer Flugzeugtoilette mit zwangsgestrecktem Bein bei geschlossener Tür‘ ist Rechtfertigung genug für eine umfassende tänzerische Ausbildung. c) Wenn’s sonst keiner tut: Respect yourself, respect the funk, respect the ladies.
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