Freundschaft in Zeiten der Mietpreissteigerung

Da fühlte ich mich sehr ungerecht behandelt von der Welt und verdrückte vor lauter großer Überraschung auch ein paar Tränen, als mein Mitbewohner mir am Küchentisch unserer gemeinsamen Wohnung gegenüber saß und mit nie dagewesener Herzenskälte sagte, ich möge bitte ausziehen, um seiner Freundin Platz zu machen. Ich konnte es nicht fassen, und es dauerte noch ein Weilchen, bis ich merkte, dass, bei genauerer Betrachtung, eine relativ stringente Entwicklung hierher geführt hatte.

Vor zehn Jahren suchte ich mit meiner Freundin eine Wohnung in Hamburg. Es dauerte ein Weilchen, denn eine Maklercourtage schlossen wir aus, und als Studentinnen zählten wir nicht zu den Vermieterlieblingen. Wir gingen zu ein paar Besichtigungen; angesichts schmutziger Wände, abgefallener Türklinken oder kleiner Löcher in der Decke sagten die Hausverwalter: Das müssten Sie dann natürlich noch machen, bevor Sie einziehen.

Wir bekamen eine irgendwie liebenswerte Bruchbude, deren Vermieter (der sie augenscheinlich hatte räumen lassen, wie wir später erfuhren) wir in Sätzen wie den folgenden näher kennenlernten:

„Ach, die Farbschmiererei an der Zimmertür – das lasse ich Sie am besten selber überlackieren, dann können Sie sich auch die Farbe aussuchen. Ist doch schön.“

„Ha, na, das möchte ich ja sehen, wie Sie zwei kleine Personen die Tapete von der Decke abreißen.“

„Da ist ein Wasserfleck an der Decke? – tja, sehen Sie, und darum war nämlich auch die Tapete drüber!“

„Weiße Fußbodenleisten; na, ich denke, holzfarbene sind aber besser. Ach, die kosten gleich viel? Na, dann in Ordnung.“

Der Handwerker, der besagte Leisten verlegte, sagte, der Mann habe Stacheldraht in den Hosentaschen, wenn es um seine Mietobjekte gehe. Er ließ seinen Sohn den billigsten verfügbaren PVC-Boden in die Küche legen, wir waren’s zufrieden. Die Freundin des Sohnes putzte die Treppenhäuser. Unser Schuhregal vor der Tür bemängelte sie: „Das ist kein angemieteter Wohnraum – würde der Vermieter jetzt argumentieren.“ – Oh, ganz sicher würde er das tun. Das glaubten wir auch.

Als wir auszogen, gab es bereits einen ausgesprochen unsympathischen Makler, dem sich die Studenten, die die Bruchbude zu übernehmen beabsichtigten, mit an den Haaren herbeigezogenen persönlichen Gemeinsamkeiten in „Und gucken Sie heute abend auch Fußball?“-Manier an den Hals warfen, und ihm zusätzlich zur Courtage mehrere Hundert Euro Trinkgeld versprachen. Am Ende sah die Wohnung, frisch gestrichen, zwar besser aus als zuvor, aber der geizige Sohn des geizigen Vermieters erspähte einen kleinen Schnitt im billigen PVC-Küchenfußboden, auf den uns mal ein Messer gefallen war, und behauptete, das sei nicht Abnutzung, das sei Zerstörung, er werde das nicht hinnehmen, und ein neuer Boden sei von uns zu bezahlen. Ob er ihn je auswechselte oder einfach nur einen Teil unserer Kaution einbehielt und den willigen Nachmietern den gleichen Bären aufband, überprüften wir am Ende nicht mehr. Wir hatten viel Neues vor – es war uns zu blöd.

Die Wohnungssuche mit meinem Freund in Berlin vor sechs Jahren war deutlich entspannter. Das würde selbstverständlich noch gemacht, bevor Sie einziehen, sagte der Gesandte von der Hausverwaltung eilig angesichts eines etwas schief hängenden Deckels auf der Klospülung in der ansonsten makellosen Wohnung. So war es jedes Mal. Nach den 50 Quadratmetern für 550 Euro in Hamburg sahen wir goldene Zeiten auf uns zukommen.

Wir bekamen einen 100-Quadratmeter-Altbautraum mit Ofenheizung für 570 Euro. Bruttokalt und auch ein bisschen schwer warmzukriegen. Aber schön. Alle Leute schwärmten vom Charme der Ofenheizung: Die macht so eine schöne Wärme. Das sagten wir dann auch oft, schafften es auch ein ums andere Mal, uns selbst davon zu überzeugen, dass das nichts als die Wahrheit war, und wenn morgens einer fast heulte, weil er vorm Kaffee durch den Schnee in den Kohlenkeller musste, gingen wir solidarisch beide und schafften Kohle für die nächsten vier Tage hoch. In Eimern und einer IKEA-Tasche. Der Vermieter hatte bei der Besichtigung zu unserer mageren finanziellen Ausstattung gesagt: „Sie passen so gut in die Hausgemeinschaft.“ Im Erdgeschoss war eine Kneipe mit liebenswert-resoluter Wirtin, in der sich die Nachbarschaft ab 9 Uhr morgens einen ansoff; unter uns wohnte eine Studenten-WG; über uns zog ein halbes Jahr später ein Architektenpärchen ein. Die zahlten schon 200 Euro mehr.

Nach vier Wintern hatte sich der Charme der Ofenheizung abgenutzt und die Beziehung lag im Sterben. Zum fünften Winter suchten wir getrennt neue Wohnungen. Es dauerte sehr lange. In unserer Straße hatten über die Jahre drei Cafés, ein Eis- und ein Kinderklamottenladen aufgemacht, wo bis dahin nur ein dubioser Fischladen mutmaßlich irgendwelche Geldwäschegeschäfte betrieben hatte. In der Gegend zu bleiben war für uns Freiberufler schon völlig utopisch geworden. Menschentrauben standen bei den Besichtigungen vor den Haustüren und im gesamten Treppenhaus, bevor man sich mit eng angelegten Armen zwischen achtzig anderen Menschen durch die Räume schob. Alle Interessenten hatten perfekte Bewerbungsmappen mit vollständigen Unterlagen plus sympathiewerbenden Fotos und Angaben zu Hobbies und handwerklichen Fähigkeiten in zwanzigfacher Ausführung erstellt und gaben sie noch am Eingang ab. Anschließend saß ich mit meinem künftigen Mitbewohner (zum vollen Status fehlte halt bloß noch die Wohnung) frustriert im nächsten Café, wo wir versuchten, uns unsere Chancen schön- und die Wohnung für den Fall des Misserfolgs unserer Bewerbung prophylaktisch schlechtzureden. Unsere Auswahlkriterien lockerten sich von Tag zu Tag. Ach, wer braucht Nahverkehr? Einen Fußboden? Fenster? Toilette?

Unsere alte Wohnung wollten wir derweil gern an einen unserer zahlreichen wohnungssuchenden Freunde weitervermitteln. Was sich schwierig gestaltete, denn der Vermieter hielt hinterm Berg mit Informationen zum künftigen Mietpreis – es sei nun doch noch eine Heizung geplant, und die Kosten und die Zeit, man müsse mal sehen. Als wir schließlich auszogen, hatte er beschlossen, auf die Heizung vorerst zu verzichten, und sie trotzdem für 995 Euro weiterzuvermieten. Bruttokalt. Fast das Doppelte von unserer Miete. Die Leute rissen sie ihm aus der Hand. Gegen das Streichen der Wände argumentierten wir nur kurz, dann taten wir’s einfach. Es war uns wohl zu blöd und zu viel anderes los.

Mein Mitbewohner und ich hatten inzwischen eine Ruine angemietet, diesmal richtig. Die Wände roh oder halbverputzt, braun oder grau, Löcher in den Decken, der Boden nicht vorhanden oder mit Leim, Dämmwolle, Plastik dreifach verklebt und vernagelt. Insgesamt düster. Aber erschwinglich, und wir hatten Chancen. Wir hatten beide soeben Pärchenwohnungen und gescheiterte Beziehungen verlassen, waren wild entschlossen, unser Leben anzupacken, und sagten: Super Wohnung. Kriegen wir hin. Vor der Tür wartete eine Traube Menschen, aber wir waren die glücklichen Gewinner und machten uns ans Werk.

Nach zwei Monaten der Renovierung waren wir wie ein altes Ehepaar. Wir hatten Wände verputzt und verspachtelt, Dielen abgeschliffen, Böden verlegt, Decken ausgebessert, gestrichen, relativ viel geheult und frustriert alles in die Ecke geschmissen, um dann gleich weiterzumachen und schnellstmöglich unsere Schlaflager bei verschiedenen Freunden auflösen zu können. Irgendwann waren wir fertig. Unglaublich erleichtert, die grauenvolle Wohnungssuche hinter uns zu lassen und Ruhe für anderen, wichtigeren Kram zu haben. Wir hatten einen Herd in einer grünen Küche, einen Kühlschrank, einen Küchentisch mit Tischdecke und Kerze drauf, saßen uns daran gegenüber und wunderten uns, dass wir uns in dieser Zeit nicht vollkommen zerstritten hatten. Und wussten: jetzt sind wir sowas wie Blutsgeschwister.

Dann begann eine schöne WG-Zeit, dann hatten wir beide neue Love Interests, dann war seine Freundin immer bei uns, dann war sie schwanger, dann saßen wir wieder am Küchentisch und führten besagtes überraschendes Gespräch, in dem ich schließlich sagte, dass mich jeden Tag mit achtzig anderen Leuten durch überteuerte Wohnungen schieben und einem Vermieter ein geregeltes Einkommen vortäuschen, ein halbes Jahr, nachdem man das alles hinter sich wähnte, das Letzte sei, was ich gerade tun wolle. Und dann gab ein Wort das andere, und am nächsten Tag auch, und ehe ich mich’s versah, waren wir völlig zerstritten, und ich konnte es nicht glauben.

Erst später dachte ich: Das passiert also, wenn sich wirkliche Angst breitmacht, keine Bleibe mehr im eigenen sozialen Umfeld zu finden. Dann gibt es plötzlich ungekannte Beißreflexe, und Freundschaften zerbrechen am Streit um Wohnraum. Das passiert in Berlin gerade an allen Ecken und Enden, und aus zuverlässigen Quellen weiß ich, dass es in Hamburg und München nicht besser ist. Und ich finde immer noch, dass man viele Dinge, sagen wir: zwischenmenschlich besser hätte lösen können, aber irgendwie fand ich die Geschichte auf eine merkwürdige Art konsequent – denn hatte ich nicht schön mitgentrifiziert, indem ich eine bequeme Mieterin war, mich nicht zur Wehr gesetzt hatte gegen Vermieterungerechtigkeiten, weil es mir nicht wichtig genug war oder zu blöd, und ich mich lieber mit anderen Dingen befassen wollte? Bestenfalls gemault hatte, aber nichts getan, und so die Sache mit vorangetrieben? Wie so viele andere, beispielsweise all meine jeweiligen Nachmieter? Und dann nahm ich mir die Erkenntnis zu Herzen, dass es vielleicht lästig und blöd ist, Querelen mit neuen oder alten Vermietern in Kauf zu nehmen und durchzufechten, dass aber ein bisschen Randale an der richtigen Stelle dem Zustand der Freundschaften und der allgemeinen Solidarität vielleicht am Ende zuträglicher sind, und das, denke ich, müsste die Sache durchaus wert sein.

 

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