Irgendwann stehe ich in der Küche des Gemeinschaftsbüros in Berlin und beschwere mich in einem Anflug von Selbstmitleid über meine zerfranste Berufsidentität. Ich weiß nicht, wie viele Leute ähnlich lavieren, aber nachdem ein anderes Gespräch in einer anderen Berliner Küche mit der Frage ‚Sag mal, kennst du eigentlich irgendwen mit einem richtigen Job?‘ anfing und mit einer sehr langen nachdenklichen Pause und dann genau einer Namensnennung endete, gewinne ich den Eindruck, dass zumindest in der Blase des sogenannten kreativen Prekariats dieser Stadt gar nicht so wenige Menschen ein ähnliches Modell fahren. Heißt: Man macht alles, wofür man bezahlt wird, behauptet auch jeweils, das und nichts anderes sei die eigene Profession; man besitzt acht Emailadressen und damit einhergehend die jeweilige Identität als freie Mitarbeiterin dieser oder jener Firma, als Selbstständige, als Privatperson.
Man passt den Ton in den Mails entsprechend an und entscheidet sich für Sehr geehrte Frau Heinze, Lieber Karsten, Guten Tag, Hi bzw. Mit freundlichen Grüßen, Herzliche Grüße, LG oder Tausend Küsse. Man ist seriös. Möchte ich mich um die Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin bewerben. Meine Forschungsschwerpunkte. Lässig-freundlich: Meldet Euch einfach. Ich freue mich, wenn ich von Euch höre. Die Rechnung schicke ich gleich mit. Strukturiert: a) b) c) – bitte um Antwort bis Donnerstag. Organisationstalent zählt zu meinen größten Stärken, wie ich bereits xyz unter Beweis stellen konnte. – Die Leute, denen ich das erzählt habe und die mir für organisatorische Tätigkeiten Geld gezahlt haben, dürfen niemals meinen Schreibtisch zu Gesicht bekommen. Werden sie auch nicht, weil er unter Kubikmetern von Papierstapeln begraben ist. Aber wenn ich in einer fremden Firma bin, als Orgatante – kein Problem. Ordentlich, strukturiert, alles auf dem Schirm. Eine andere Persönlichkeit bemächtigt sich meiner.
Die Leute wissen natürlich nichts von meinen wechselnden Identitäten, und so werden sie misstrauisch, wenn auf einer Visitenkarte steht: Text, Übersetzung, Illustration, Archivrecherche und Swingtanzunterricht, Preis auf Anfrage. Ja was denn nun? – fragen sie, vielleicht sogar zu Recht, irgendwie, und denken vermutlich: alles ein bisschen, nix richtig. So isses doch. Aber ist es das?
Wie auch immer, sicherheitshalber gibt es verschiedene Sätze Visitenkarten. Verschiedene Kleidungsoptionen, die fürs Archiv und Museum, die für die Filmproduktion, die fürs eigene Büro, die fürs Tanzen. Schlüpfe ich in die Klamotten, schlüpfe ich in die Persönlichkeit. Ich werde auf der Stelle quirlig und energiegeladen, wenn ich vor einer Tanzkursgruppe stehe. Konzentriert, ernsthaft und deep, wenn es an Konzepte und Recherchen geht. Ich glaube, ich werde sogar kurzsichtiger, wenn ich in Archiven sitze, weil das Maulwurfding in meinem Kopf irgendwie dazugehört.
Die Sache ist: Es ist schön. Das alles macht mir auf seine je eigene Weise wirklich tiefe Freude. Allein arbeiten, im Team arbeiten; mich in den nüchterndsten Texten oder Inhalten vergraben und was Faszinierendes darin finden, eigenen Ideen nachspinnen, oder Faxen vor einer Gruppe machen, auf nichts davon verzichten. Super. Es strengt aber schon auch an. Wenn ich mich eben wieder in meinen eigenen Großtext reingefuchst habe und anfange, gut voranzukommen, kommt plötzlich ein Auftrag für eine eilige Übersetzung, die aber okay bezahlt ist. Schon unterbreche ich wieder. Zurück am Ball – geht das Spiel von vorne los. Und ich denke: Kann die Welt sich nicht mal entscheiden, ob sie mich als Historikerin oder Illustratorin oder einfach diesen Roman haben will?
Ja, und man ahnt schon: Kann sie nicht. Ich muss mich entscheiden, als was ich mich haben will, nehme ich an. Und darauf arbeite ich nun hin, nachdem ich es nach hundert Jahren allmählich begriffen habe – und der Einsichtsprozess dauert immer noch an. Die größte Herausforderung sind sicher die Finanzen. Ein bezahlter Job ist ein bezahlter Job, und wie lange will man sich (und gegebenenfalls mal einer Familie) diese Zitterpartie um die Miete zumuten, bloß weil man der Ansicht ist, am weltbesten Filmstoff dran zu sein, der einem potenziell in zehn Jahren viel Ruhm und Geld einbringen wird? Falls mal jemand beschließt, zwei, drei Millionen Euro in die Realisierung zu stecken. Ein weiterer Faktor: der Selbstzweifel. Ach komm. Was glaubst du, wer du bist? Wartet irgendwer auf dich? Wieso gerade du? Machst du dir nicht was vor? Sei halt froh, wenn dich jemand auf nem Assistenzposten einstellt, jeden Monat Geld aufs Konto, auch mal Urlaub und Biogemüse. Es ist nicht immer ganz leicht, sich permanent selbst so fantastisch zu finden, dass man dranbleibt – und diesen Glauben aufrechtzuerhalten, wenn man sich kaum nen Kaffee mit Aufgeschäumtem leisten kann oder, schlimmer, sich mit aller Welt vergleicht. Und dann auch: die vielen Ideen und Wünsche. Ich war ganz schön oft ganz schön neidisch auf Menschen mit genau einem großen Talent. Die nie irgendwas anderes wollten als dem nachzugehen. Den roten Faden habe ich noch nicht so recht gefunden, scheint’s. Wissenschaftlich arbeiten – und nie viele Menschen erreichen? Schreiben! – Und nie illustrieren? – Zeichnen! Comics! – Und nie ernsthaft forschen? Und wie passt überhaupt die Tanzerei da rein?
Ich glaube, und das hätte ich nie gedacht, ich habe so langsam etwas gefunden, was alles zusammenfügt. Oder bin auf einem ziemlich guten Weg. Außer dem Tanzen, das muss etwas außen vor bleiben, aber das kann es ja auch. Und finanzielle Schwierigkeiten und Selbstzweifel werden mir bestimmt noch eine Weile bleiben, da hab ich keine Sorge. Aber wenn ich die Kraft zusammenraffen kann, dann werde ich, glaube ich, rückblickend froh sein, keins meiner Lieblingsgebiete ganz aufgegeben zu haben, und ich glaube außerdem, das würde mich sehr glücklich machen.
In der Küche des Gemeinschaftsbüros sagt die Kulturhistorikerin, dass die Bezeichnung Universaldilettant früher überhaupt keinen negativen Beigeschmack gehabt habe. Im Gegenteil: gerade das sei das Ideal der Salonkultur im 19. Jahrhundert gewesen. Und klar bin ich dafür wirklich ein ganzes Stück zu spät dran, aber ich nehme es gern zum Anlass, mich trotzdem besser zu fühlen. Und es ist eine weitere überraschende Erkenntnis, dass Kulturgeschichte einem auch mal ganz praktisch weiterhelfen kann. Danke auch dafür!
lebenswichtige erkenntnisse
Pingback: Alte Männer, dicke Frauen, und Timing in der Freiberuflichkeit | lebenswichtige erkenntnisse