Kein BILD-WM-Bingo (bisher), kann ja noch kommen

Okay. WM. Es ist so gut wie soweit, und zwei Tage vorher schiebt sich’s schwer auf. Obwohl man es ja kommen sah, seit Wochen. Monaten. Im Grunde Jahren.

Es war so: Weil die Fußballweltmeisterschaft der Herren alle vier Jahre wieder insbesondere in der BILD-Zeitung gern zum Anlass genommen wird, um mal so richtig auf den Putz zu hauen, was all die Stereotypen über ‚uns‘ und ‚die‘ betrifft, was zur eigenen Nation Gehörige und zu anderen Nationen Gehörige bedeutet… Und weil ich mir das vor einer Weile mal genauer angeguckt habe… Dachte ich: So. BILD-WM-Bingo. Kann man so aus dem Handgelenk hinschreiben. Wie man sich im Gefühl der eigenen Weltläufigkeit, Großherzigkeit und Toleranz suhlen wird, weil man bereit ist, polnische und türkische Migrationshintergründe zu akzeptieren, sofern sie gut kicken können: „Jogis Jungs – Wir sind international wie nie“; wie man andererseits alle Klischees heranziehen wird, die ein bisschen Öl in aktuell schwelende Ressentiments gießen: irgendwas über rumänische/bulgarische Sozialschmarotzer; irgendwas Bescheuertes wie „Ünd die wollen in die EÜ? Pfüi Teüfel“ im Falle einer Niederlage gegen die türkische Mannschaft, die selbstverständlich unverdient und unfair gewesen sein würde… aber nun sind die rumänische, bulgarische und türkische Mannschaft sämtlich nicht qualifiziert. Nun ja. Heißt ja nicht, dass man nicht trotzdem Trends erkennen kann.

Die Entwicklung läuft schon ein Momentchen. 1954 wurde die deutsche Nationalmannschaft Weltmeister; das erste Mal, dass man die Deutschen wieder mitspielen ließ, nachdem sie den Kontinent samt vieler, vieler Menschen in Schutt und Asche gelegt hatten. Kein idealer Moment, um sich nationaltrunken auf die Brust zu trommeln. Ahnte man auch irgendwie. Selbstmitleidig bis trotzig war die Grundhaltung gegenüber Ressentiments aus dem Ausland. Hatte man nicht auch gelitten? Konnte man es nicht langsam mal gut sein lassen? Hach, am besten sagte man gar nichts mehr.

In der BILD-Zeitung der Zeit dominierte die Erzählung der bescheidenen Helden: das galt sowohl für die antretende Mannschaft als auch für die duldsame Bevölkerung, die betontermaßen gar kein großes Aufhebens um ihr fabelhaftes Wirtschaftswunder machte. Ach, ist doch nicht der Rede wert, unsere Großartigkeit. Anderes wurde sorgfältig ausgeblendet. So wie der Nationalsozialismus nicht erwähnt wurde – oder höchstens als die „15 Jahre beispiellosen Schicksals“ (1939 bis ’54 jetzt; vorher war scheinbar alles dufte gewesen, wohingegen man es nun durchaus noch sehr (beispiellos!) schwer hatte), die irgendeine obskure Vorsehung den der Sache passiv ausgelieferten Deutschen aus nicht näher erfahrbaren Gründen zugedacht hatte -, verlor man auch über die (durchaus existenten) nationalistischen Entgleisungen im Umfeld des Titelgewinns keine oder bloß ein paar nachsichtige Worte. Konkret hatte beispielsweise DFB-Präsident Peco Bauwens in einer Rede anlässlich des Titelgewinns seinen Dank an Wotan, den „alten Germanengott“ gerichtet, einige Ausführungen zur Flagge zum Besten gegeben

„[…] wenn aber andere Nationen mit ihren Fahnen auf den Platz liefen, dann geht es nicht an, dass unseren Leuten es verboten wird, unsere stolze deutsche Flagge zu führen. Das lassen wir uns nicht gefallen. Unsere Mannschaft hat ihnen die Quittung gegeben! […] und jetzt kämpftet Ihr ohne äußere Flagge, aber im Herzen tragt Ihr die deutsche Flagge, und dann haben die Jungen es wirklich gezeigt, was ein gesunder Deutscher, der treu zu seinem Lande steht, vermag“

– seinen Wunsch geäußert, dass die Leistung der Spieler „zünden soll in unserer Jugend, damit sie gute Deutsche werden auch für die fernste Zukunft“, sowie wohl halbscherzhaft, aber mindestens unsensibel auf das „Führerprinzip – im guten Sinne“ verwiesen. An der Stelle brachen die Rundfunksender die Übertragung lieber schnell ab. Dieselbe Rede nahm sich in der Zusammenfassung von BILD so aus:

„Der Präsident des Deutschen Fußballbundes, Dr. Peco Bauwens, hielt eine kleine Ansprache. ‚Der deutsche Fußballsport huldigt keinem übertriebenen Nationalismus. Aber jeder hat ein Vaterlandsgefühl, und aus diesem Gefühl heraus freue ich mich, dass unsere Nationalmannschaft auf diesem friedlichen Wege zum Ansehen Deutschlands in der Welt beigetragen hat.’“

Hier wurde man von Unschönem und Heikelkeiten wohlweislich verschont. Was die ‚anderen‘ betraf, waren das 1954 vor allem die Ostblockstaaten, deren Angehörige als unfrei und dressiert dargestellt wurden. Brasilianer etwa kamen als eine Art Halbwilde aus dem Busch rüber, und dergleichen – insgesamt bestand die Darstellung der anderen aber in erster Linie darin, sie betonen zu lassen, wie erstaunlich und beeindruckend sie die Deutschen fanden. Eigenlob über Bande; kurz: Man fand sich selbst schon wieder ziemlich super, traute sich aber noch nicht so recht. Ein bisschen gschamig halt noch.

1974 war die Sache anders: die Fußballer waren Stars, wurden sehr ordentlich bezahlt, es gab Homestories und für jede emotionale Nuance einen Vertreter. Paul Breitner, der Spaßvogel, Berti Vogts, der einsame Malocher. Franz Beckenbauer war bereits damals die moralisch wie sportlich über jeden Zweifel erhabene Lichtgestalt. Siegessicher war man generell, besonders aber gegenüber der DDR, und und überhaupt nicht vorbereitet auf die Niederlage. Die kam ja dann doch, vorerst. Rassismus? Schon. Xenophil verpackt zum Teil: Spieler aus Haiti und Zaire bezeichnete ein Redakteur fortwährend als „schwarze Perlen“. Südamerikaner, hieß es, spielten immer Theater, und zwar alle. Sexismus? Durchaus. Die neue Freizügigkeit traf offenbar auf gewaltiges Interesse an allem, was mit Körpern und Sex zu tun hatte. Dem wusste BILD Rechnung zu tragen, was vermutlich niemanden überrascht. Das Verhältnis zur Nation aber war alles in allem so nüchtern wie nie, vermutlich gespeist aus dem Selbstbewusstsein, dass die Sache alles in allem erst mal funktionierte. Ein gemeinsames Verwaltungsgebiet, eine gemeinsame Fußballerauswahl zum Anfeuern, bums. Keine Blut-und-Volkscharakter-Schicksalsgemeinschaft. Ich fand’s vergleichsweise angenehm.

2006 brachen dafür dann alle Dämme. Verschämtheit und Zurückhaltung im Nationalstolz – keine Spur mehr. So unerbittlich, wie die Autobeflaggungsverweigerer und auch nur leise kritischen Stimmen von BILD verfolgt und ins Gericht genommen wurden, darf man schon mal einen zarten Zweifel am total unverkrampften Patriotismus anmelden, von dem die ganze Zeit geredet wurde. ‚Miesmacher‘ war eine beliebte Beschimpfung, und jeder, jeder, der irgendwie nicht mitmachen wollte im Schwarz-Rot-Geil-Taumel wurde beschuldigt, „uns unsere schöne WM versauen“ zu wollen.

Gerne hätte die Redaktion sicherlich exklusive Einblicke ins eigentliche Sportgeschehen gehabt; darum ging es am Rande schließlich auch noch. ‚Klinsi‘ allerdings gewährte BILD keine Privilegien in seiner Informationspolicy, wofür er übrigens in einer langatmigen Grinsi-Klinsi-Kampagne büßen musste, und so war BILD gezwungen, ziemlich viel über Bruno, den Problembären zu berichten. Und über die Beckenbauer-Hochzeit, die der ‚Kaiser‘ der BILD-Zeitung zur WM schenkte. Das war dann schon was. Im Übrigen gnadderte Franz Josef Wagner wirr-pathetische Liebesbriefe an Deutschland heraus, mit denen er sich todsicher selbst zu Tränen rührte, und irgendwer kam auf die raffinierte Wortspielerei Schwarz-Rot-Geil, die in den folgenden Wochen aufs Gründlichste zu Tode geritten wurde. WM-mäßig schossen sie dafür unter augenscheinlich verzweifeltem Originalitätszwang gern mal kilometerweit übers Ziel hinaus und schickten beispielsweise einen Reporter, der sich das Beckham-Erbrochene, das jener auf dem Spielfeldrasen hinterlassen hatte, mal genauer ansehen sollte. Zum irgendwie dann doch Glück aller Leser hatte es aber über Nacht geregnet, und so veröffentlichte das Blatt allen Ernstes großformatige Rasenfotos von heiligem Boden: der Stelle, wo David Backham mutmaßlich hingekotzt hatte. Rassismus? Eher quatschige Häme mithilfe von Ikea-Schweden- oder Stier-Spaniern-Stereotypen gegenüber den anderen. Sexismus: ach ja. Tausendfach nackte Frauen, die zur ‚Expertin, wenn es um Bälle geht‘ wurden, und zahllose ähnlich doofe Kalauer.

Man darf gespannt sein auf den Fortgang der Sache. Zwei Dinge jedenfalls sind nach dieser Intensivauseinandersetzung passiert: Ich habe angefangen, Fußball zu gucken. Und: Ich habe mir dieses Blatt seitdem im Interesse meines Seelenfriedens nie wieder angesehen. Zu schlechte Laune darüber, in einer Welt zu leben, in der sowas sich verkauft und als Meinungsinstanz gilt. Allerdings habe ich vergessen, mir die Zustellung der WM-Gratis-BILD zu verbitten, und werde sie so wohl demnächst mal wieder in der Hand halten. Die aktuellen Zuschreibungen und das Verhältnis von BILD zu Jogi Löw, den Spielern und den anderen Teams habe ich jedenfalls nicht mehr ausführlicher studiert. Für dieses Jahr ein Bingo auszurufen fühle ich mich daher nicht qualifiziert. Wer Schlagzeilen erahnt, sei allerdings herzlich eingeladen, sie vorab zu liefern; vielleicht macht’s auch der BILDblog, der mir seinerzeit oft genug die Stimmung gerettet hat.

Relativ sicher ist allerdings, dass nach wie vor der olle Kaiser in der dankbaren BILD-Zeitung seinen Senf zu restlos allem dazugeben wird, unter beiläufiger Dauererwähnung seiner eigenen Erfolge, und dass unter dem Brennglas beobachtet werden wird, wer wie laut die Nationalhymne mitsingen wird. Hand auf dem Herzen ergibt Lieblingsspielerstatus. Die Spielerfrauen werden ein Thema sein, und jede einzelne wird permanent mit dem Präfix Schöne bedacht werden (as in „Schöne Monika: Ich weiß, dass mein Poldi alles geben wird“). Schon jetzt gibt es anscheinend eine bescheuerte Kolumne von der Freundin von Mats Hummels, die ‚Spielerfrau und stolz drauf ist, und aus dem Nähkästchen plaudert, was den Style der anderen Spielerfrauen betrifft. Ich vermute außerdem, dass es WAHNSINNIG viele sambalastige Schlagzeilen geben wird und man sehr viele Wortrudimente darüber verlieren wird, wie heiß die ’schönen Brasilianerinnen‘ beim WM-Feiern so sind. Evtl. folgt dann auch der Gegenschlag mit den ebenso schönen weiblichen deutschen Fans, weil es erstens so viel besser ankommt, sich als Teil der Sympathische-Mädchen-mit-etwas-Schwarzrotgold-auf-der-Wange-Nation fühlen zu können als zum Land der bei Halbbewusstsein grölenden und randalierenden Komplettbemalten, und weil zweitens bekanntlich jede Ausrede fürs Brüstezeigen recht ist. Ich bin gespannt, wie aggressiv man zum Fahnenschwenken und Hymnensingen angehalten werden wird, ob sie die Schwarz-Rot-Geil-Sache wieder aus der Versenkung buddeln, und ob sie ‚uns‘, so als ‚Volk‘ in üblicher Gefühligkeit über den grünen Klee loben werden für unsere traumhaften Kollektiveigenschaften. Man wird es wohl im Vorbeigehen mitbekommen, auch wenn man sich nicht gesondert damit beschäftigt, und mehr ist, glaube ich, auch nicht gut für das eigene Vertrauen in die Welt. Und so gibt es hier nun am Ende kein BILD-WM-Bingo, aber sollte in irgendeinem Teil dieses Internets die Schwarmintelligenz zuschlagen, kommt’s vielleicht ja doch noch, und darüber wiederum werde ich mich dann auch freuen.

Update: Weil es thematisch so fein passt und im Übrigen so treffend wie lustig ist, hier die wunderhübsche Analyse des Systems FIFA von John Oliver (via

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