Gaza und all das

Ich bin vermutlich nicht der befugteste Mensch der Welt, mich zum Krieg in Gaza zu äußern; Teile meiner Freunde befassen sich beruflich mit nahezu nichts anderem, ich hingegen die allermeiste Zeit doch, und dazu ist das Thema endlos verfahren und komplex. Ich habe aber den Sonntag damit verbracht, mich auf der Fahrt zum Badesee, am Badesee und auf der Rückfahrt nach Hause mit meinem Liebsten zu streiten, und zwar über den Krieg in Gaza. Erst mal. Danach wurde alles unversöhnlich wie der Nahostkonflikt und ging über in ein wer-hat-was-wann-wie-gesagt-wer-wollte-sich-vertragen-und-wer-hat-wieder-angefangen-und-war-die-Reaktion-angemessen-undsoweiter, und dann konnte keiner mehr zurück. Kommt einem das bekannt vor?

Was in Gaza passiert, und letztlich, was in ganz Israel und Palästina seit Jahrzehnten passiert, ist eine Tragödie und kann einen zugleich verzweifeln lassen und rasend wütend machen. Und sowohl der Konflikt selbst als auch die Art, in der sich Menschen in Deutschland darauf stürzen und Stellung beziehen wollen, hat, glaube ich, viel mit sehr menschlichen, sehr emotionalen Impulsen zu tun. Ich habe das oft gedacht, wenn ich mich mit Geschichte befasst habe: wie viel von menschlicher Schwäche entschieden wird, sobald die Rahmenbedingungen es zulassen. In einer Diktatur die Nachbarin denunzieren und potenziell in Knast oder Tod schicken, weil sie einem mal durch Nicht-Grüßen auf den Schlips getreten ist. Aus Eitelkeit und Profilneurose als Person mit Macht und Einfluss über einen Sexskandal stolpern. Korruption. Massenhafte Bequemlichkeit, die westliche Kunden billige Produkte aus Drittweltsklaverei kaufen lässt.

Nun hat der Mensch neben seinen Impulsen und Emotionen auch noch dieses Gehirn, das individuell für derlei nicht ausreichen mag, das es aber im Kollektiv und über viele Jahrhunderte zumindest formal zuwege gebracht hat, ebenjene menschlichen Impulse und Motivationen einigermaßen im Zaum zu halten. Ich spreche von Dingen wie Rechtsstaatlichkeit: die Errungenschaft, beispielsweise jedem eines Verbrechens Verdächtigen einen Prozess nach bestimmten Regeln zukommen zu lassen, und nicht dem spontanen Rachebedürfnis ungebremst nachzugeben, weil das zu vollkommener Willkür führen würde. Internationale Vereinbarungen zu Umweltschutz und Menschenrechten, anderes Beispiel. Und ähnliche Standards.

Daran hält sich nicht jeder, schon gar nicht, wenn Ideologie ins Spiel kommt. Und wenn dann noch jeder als der Gute dastehen will – auch ein menschliches Bedürfnis, wie ebenfalls die Geschichtsschreibung zeigt, die von der mittelalterlichen Heiligenlegende bis zum Stasiagenten-Einsatzprotokoll voller Rechtfertigungen steckt -, klappt alles zusammen, weil alles doppelbödig und verwurstelt wird, nämlich erstens sehr emotional aufgeladen, zweitens aber auch sehr kalt kalkuliert. Weder schützt Hamas die Bevölkerung von Gaza, wenn sich ihre Hauptakteure in Wohngebieten verstecken, sondern rechnet mit dem Imageschaden, den die israelische Armee durch die Tötung von Zivilisten nimmt, und nutzt die gigantischen Opferzahlen gern für Sympathiegewinne. Noch agiert die israelische Regierung in irgendeiner Weise angemessen und/oder geradlinig, wenn sie die Entführung dreier Jugendlicher durch unbekannte Einzeltäter und die dadurch aufgeheizte Stimmung mit Handkuss als Begründung für Übergriffe, Häuserzerstörungen und letztlich eine Eskalation der Gewalt nimmt. Beide sind unnachgiebig in ihren Anliegen, und dass beide in der Lage sind, reichlich Gründe dafür zu finden, dass der andere zuerst angefangen hat und man daher jetzt zurückschlagen müsse, haben sie reichlich bewiesen.

This Land Is Mine from Nina Paley on Vimeo.

Dass Menschen auf beiden Seiten sich bedrängt und im Recht fühlen, ist bestimmt richtig. Und beide versuchen, die weltweite öffentliche Meinung auf ihre Seite einzuschwören. Facebook, ach, was sage ich, das ganze Internet ist voll davon. Und dazwischen kommen die verhuschten deutschen Stellungnahmen, oder auch die völlig unverhohlenen antisemitischen Äußerungen (oder gar Gewalt), die davon künden, dass auch hier irgendwo tief unten noch etwas schwelt von einer Schuld, die eine unvoreingenommene Meinungsäußerung unmöglich macht. Wie groß das Thema im Vergleich zu ISIS, Boko Haram, der Ukraine etc. ist, zeigt, wie viel näher es einem steht, und vielleicht leider, dass es auch ein bisschen befriedigend ist, jetzt endlich mal mit Fug und Recht sagen zu können, dass Israel auch nicht immer alles richtig macht. Endlich mal auf der richtigen Seite stehen. Endlich mal der Gute sein. Wollen wir wohl auch.

Dass der Komplex für derlei deutsche Befindlichkeitspolitur instrumentalisiert wird, ist die eine Sache, und bitter genug. Trotzdem darf man – sofern man mal von Wendungen wie „Ausgerechnet die Israelis“ u. Ä. absieht – durchaus un-antisemitisch Kritik an der israelischen Regierung äußern. Man kann von einer Staatsregierung andere völkerrechtliche Standards erwarten, als von einer Organisation, die mit der Zeit und mit dem Scheitern aller anderen Versuche, Frieden zu schaffen, erst gewachsen ist. Es ist eine Frage danach, was man mit Menschen machen kann, wie viel Demütigung zu ertragen ist, und wie viel Perspektive sie brauchen. Als Palästinenser haben sie keine, und das ist ein alles andere als menschlicher Zustand.

Das Ganze ist eine durchaus emotionale Einschätzung, und ich schreibe darüber, weil mir die Region am Herzen liegt. Als ich 2009 und 2010 dort war (im Westjordanland, nicht Gaza), sind mir zwar sehr wohl ein paar irritierende Begegnungen mit mich für meine quasi angeborene Hitlerverbundenheit als deutsche Staatsbürgerin lobenden Palästinensern unangenehm aufgestoßen. Aber neben den paar vereinzelten Dummköpfen sind mir die allermeisten Palästinenser enorm reflektiert und besonnen begegnet, mit einer klaren Favorisierung des friedlichen Dialogs. Allen war klar, dass Gewalt keine Lösung sein kann. Alle sagten, Verhandlungen seien der einzig mögliche Weg. Keiner war besonders optimistisch. – Und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Sie existierten ohne große materielle Not; Essen gab es, Medikamente gab es. Platz und Perspektiven gab es nicht. Sie fangen ein Leben an, als hätte es eine Zukunft, die es zu gestalten gilt. Gehen zur Schule, werden tipptopp ausgebildet, studieren vielleicht. Eine junge angehende Ingenieurin hat mich schwer beeindruckt durch ihre Klugheit und Liebenswürdigkeit, aber auch sie wird kein Abwassersystem, keine Müllverbrennungsanlage, nichts Wesentliches in ihrer Gegend konstruieren, denn es wird keine Baugenehmigung dafür geben. Es stinkt, und die Leute dürfen nichts dagegen tun. Sie kommen aus der Uni oder aus ihrer Ausbildung und stoßen an eine Mauer. Sie können nichts bewegen. So. Im Gehege im Kreis laufen und die hingestreuten Körner aufpicken ist aber kein Leben.

Und so ist es alle paar Jahre oder Jahrzehnte wieder mal so weit: Wenn jeder Dialog gescheitert ist, wenn alle Verträge und Abkommen gebrochen werden, wenn kurz vor den geplanten Verhandlungen noch mal mit einer Handbewegung zwanzigtausend neue Siedlungswohnungen genehmigt werden, während die palästinensischen Städte immer enger werden, wenn sich die eigene Regierung so weit gedemütigt hat und gedemütigt wurde, dass sie streng genommen überhaupt keine Existenzberechtigung mehr hat, weil sie ihr Wahlvolk überhaupt nicht vertritt oder vertreten kann, dann ertragen sie es nicht mehr. Und dann gibt es Gewalt, und dann gibt es Gegengewalt, und dann gibt es Krieg.

Bedrängnis erzeugt Radikalismus, überall. Wer nirgendwo seine Perspektive schaffen kann, zieht sich zurück auf Religion oder Ideologie, oder auf irgendwelche Feindbilder. Die rechtsradikalen Parteien in Deutschland sind nicht in den saturierten Wohlstandsgebieten oder liberalen, urbanen Alles-ist-möglich-Regionen am erfolgreichsten, sondern dort, wo man bedrängt ist, wirtschaftlich oder durch erzwungene Einschnitte, die scheinbar nicht zu bewältigen sind. Dass Hamas Erfolg hat und immer wieder Zulauf haben wird, solange sich nichts fundamental ändert, hat damit zu tun, dass die Dialog-Variante nichts, nichts bewirkt hat. Dass die durchaus legitimen Ziele nie erreicht werden, und alle Verhandlungen Makulatur bleiben. Dass man irgendwann verzweifelt, und dass Dann-eben-mit-Gewalt der einzige Ausweg zu sein scheint, überhaupt irgendwas zu bewirken. Wenigstens Beachtung zu finden. Denn in den Pausen zwischen den Kämpfen – ist es außerhalb der Region, so bitter es ist, doch allen relativ egal.

Es ist halt keine Lösung, sich aus Gaza zurückzuziehen und es abzuriegeln. Es ist auch kein Zugeständnis, jemanden freizulassen in einen Besenschrank ganz für sich alleine. Hier, bitte schön. Ich lass dich ganz in Ruhe. Was willst du denn jetzt noch? Noch einmal gegen die Wand geböllert, und es setzt ein paar Bomben! – Das reicht nicht. Es muss eine echte Perspektive geben, und die muss, als der Mächtigere in der Region, Israel schaffen. International und offiziell wird in Richtung einer Zweistaatenlösung diplomatisiert. Israelischer Staat, palästinensischer Staat, beide souverän. Wenn Netanjahu es aber im Grunde für unmöglich hält, dass es jemals irgendeine Situation geben könne, in der Israel nicht die Kontrolle über die palästinensischen Gebiete hat – worüber verhandelt man dann? Dann ist das alles großer Bullshit.

Es geht nicht darum, die eine Seite moralisch besser zu machen als die andere, oder umgekehrt. Ich glaube nicht, dass es hier oder dort bessere oder schlechtere Menschen gibt. Ich glaube, dass es viele bequeme Menschen gibt, wie überall. Auch hier wollen alle, dass es den Flüchtlingen, die auf Schlepperkähnen halblebendig in Europa ankommen, gut geht. Klar. Die Armen. Aber hier haben will man sie dann auch wieder nicht. Not in my back yard. Genau das aber würde auf Israel zukommen: Zugeständnisse, womöglich Wohlstandseinbußen… Es sind nicht nur die Siedlungen; es ist Wasser, es ist Landwirtschaft, es sind Exporte… Israel hat viel zu verlieren. Die Palästinenser haben nichts zu verlieren. Und deshalb werden sie nicht aufhören zu kämpfen, manchmal gewalttätig, und deshalb wird es kein Ende geben, es sei denn, Israel gibt ein Ziel vor, das es ernsthaft zu erreichen sucht. Und das scheint es im Moment nicht zu geben.

Der Liebste und ich haben dann spät nachts einen Waffenstillstand vereinbart, uns einen Moment in Ruhe gelassen, und uns am nächsten Abend mit beidseitigen Zugeständnissen wieder vertragen können. Einen Tick einfacher als in Nahost; zur großen Erleichterung hier, zum Jammer dort.

 

 

Danke an K.

Ein Gedanke zu „Gaza und all das

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